Scheißerchen trifft IchWeißAlles, so richtig echt. Hunderttausende treffen sich täglich virtuell im Chat, zum Lästern, Spinnen, Lieben und Streiten. Für manche ist das Ersatz für Familie und Freunde. Und manche treffen sich irgendwann auch ganz real. Das nennt sich dann Usertreffen.
"Scheeeiiiißerchen", kreischt ein Stimme durch die Hotelbar. Scheißerchen dreht sich um und wird von Teufelsweib stürmisch umarmt. Reichlich angewidert beobachtet IchweißAlles die Szene und flüstert ihrem Nachbar ins Ohr: "Der entkommt man nicht. Die tut so, als würde sie sich mit allen gut verstehen. Dabei ist jeder im Raum nur genervt von der Kuh."
XGenieX versucht einen Witz. Ein paar lachen. Scheißerchen hat wieder Luft und lernt nun SchwarzerHumor kennen, weil sich Teufelsweib gerade um ihren quengelnden dreijährigen Sohn kümmern muss.
Raunheim bei Frankfurt am Main. AOL-Chatter beim Warm-up, Treffen des Chatraums "Intelligente Männer". BleibtmirvomLeib, Ichbinecht oder schlicht Intelligenzbolzen nennen sie sich. Rund 30 "User" haben die Hotelbar umgeräumt und sitzen im Kreis. Angereist aus dem provinziellen Bayern, aus der Düsseldorfer Anwaltszene, aus ostdeutschem Hausfrauendasein, aus Hamburger Bank- und Berliner Angestelltenmilieus.
Die Kulisse erinnert an ein Vertretertreffen. Alle tragen Schilder an der Brust. Neugierig wandern die Blicke beim Erstkontakt zur virtuellen Identität: "Ach, du bist Elfchen?", oder enttäuscht: "Bist du öfter im Raum? Ich kenn deinen Screen gar nicht", oder anzüglich: "Endlich lerne ich auch mal den Ausschnitt aus deinem Leben kennen."
Wieder fallen sich zwei um den Hals, als hätten sie sich zehn Jahre nicht mehr gesehen. Wie echte Freunde wissen sie fast alles über sich: Beruf, Interessen, Familienstand, Sorgen und Hoffnungen. Man kennt sich: erst über Monate aus dem Chat, dann über stundenlanges Telefonieren und SMS. Und jetzt auch in echt.
Wie viele User-Treffen ("UTs") stattfinden, weiß niemand. AOL-Sprecher Alexander Adler schätzt die Zahl auf drei bis vier im Monat. Sicher weiß er nur, "dass sich in Spitzenzeiten weltweit bis zu 500.000 Leute in über 20.000 Chaträumen treffen." Wie erklärt er sich das Phänomen?
"Zunächst ist da der Reiz des Anonymen. Jeder kann hier jede Rolle spielen." Natürlich gäbe es "harte" Chats, die meisten plauderten aber nur so, wollten Leute treffen. Flirten sei natürlich immer angesagt und Frauen eindeutig im Vorteil, denn 65 Prozent der User seien Männer.
RussischeNacht, 18 Jahre alt, hat Pech. Ihr heimlicher Schwarm Weninteressiertdas ist einen halben Kopf kleiner als sie und jenseits der fünfzig. XChristiane interessiert sich für IchbinderBoss. Die zwei chatten unbekannterweise schon seit Wochen: "Ich glaube, sie ist in ihn verliebt. Er sucht aber nur jemandem zum Reden, weil er das mit seiner Frau nicht kann", erzählt Ichweißalles.
XGenieX ist Anwalt und baggert gerade an Elfchen. "Eigentlich ein interessanter Typ, aber irgendwas stimmt nicht. Vielleicht hat er Schulden." Hartholz hingegen hat eine gutgehende Schreinerei, dafür lebt Teufelsweib vom Sozialamt.
Obwohl der Chat grundsätzlich anonym ist, bekommt man viel raus: "Man muss nur clever fragen", meint Ichweißalles. Über Teufelsweib weiß sie: "Die hat sich gerade von jemandem den Account geliehen, weil sie ihre AOL-Rechnung nicht bezahlen konnte. Die ist hochgradig süchtig", weiß sie von einem, in den sich Teufelsweib unsterblich verliebt hat - ohne ihn je gesehen zu haben. Was ihr ungefähr alle zwei Wochen passiert. "Wenn jemand im Chat sagt, ich mag dich, dann nimmt die das vollkommen ernst. Total daneben."
Seit drei Jahren chattet Ichweißalles. Anfangs aus Neugier, später aus Überzeugung. "Du erlebst hier die dollsten Sachen und kannst richtig nette Leute kennen lernen." Online-Heiratsanträge, Beziehungskräche, harte Sachdiskussionen oder einfach nur Geplapper, um sich die Zeit zu vertreiben. Dutzende von Leuten hat sie schon getroffen. Mit dem ein oder anderen gab es ein Abenteuer. Mit ein paar ist sie richtig dick befreundet.
"Der Höhepunkt sind natürlich die UTs, weil dann die Wahrheit ans Licht kommt." Da wird das Online-Großmaul zum nägelkauenden Komplexbündel, der zurückhaltende Kommentierer zum interessanten Gesprächspartner oder die provozierende Schnellschreiberin zur Partnerin für die Nacht. "Das ist wie im richtigen Leben", amüsiert sich Frankenstern.
Singles, Geschiedene, Studierte, Arbeitslose, Einsame und Neugierige. "Und alle, die das abartig finden, sollten sich mal fragen, warum sie in ihre Stammkneipe gehen, im Kegelclub sind oder Partneranzeigen schalten."
http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,74831,00.html
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